Martin Steinberger – Entdecken-Ordnen-Gestalten

„Ich versuche, bei der Beobachtung meiner Umwelt nichts zu übersehen, was über die Fundstücke selbst hinausweist und sie zum Teil eines künstlerischen Gedankens werden lässt.“ (Anne Römpp)

Dieses Zitat der Künstlerin fungiert als inhaltlicher Schlüssel zu den Werklinien, derer sich Anne Römpp widmet. Formal verbindet diese Linien ihre bildhauerische Ausrichtung sowie die Materialisierung dreidimensionaler Gestaltung in Form von Assemblagen. Gleichzeitig unterscheidet sie die Intensität des künstlerischen Eingriffs. Will man aus dieser Perspektive eine äußere Struktur in das Werk bringen, ergibt sich eine Stufenfolge, die mit den Begriffen „Entdecken – Ordnen – Gestalten“ beschrieben werden kann.

„Entdecken“ bedeutet in diesem Kontext, dass Anne Römpp selbst alle Sinne bei der Perzeption ihrer Umwelt öffnet und mit Neugier deren Besonderheiten nachgeht. Dabei beschränkt sie sich nicht nur auf die visuelle Ebene, die gemeinhin als vorrangige Sensorik für künstlerische Eindrücke bedient wird. Durch ihre Arbeit mit Blinden hat sie erfahren, dass Sehen weder zwangsläufig noch ausschließlich mit Verstehen gleichzusetzen ist. So sind jene speziellen Arbeiten von Anne Römpp (im wahrsten Sinne des Wortes) nur zu begreifen, indem (auch) andere Sensoriken bemüht werden. Wer sich allein auf seine optische Wahrnehmung verlässt, wird es nicht schaffen, die speziellen Botschaften der Arbeiten zu entschlüsseln.

Auch das „Ordnen“ ist ein Teil ihrer künstlerischen Arbeit. Hier tritt die Aufgabe des Künstlers als Kompositeur in den Vordergrund. Mit Pablo Picasso lässt sich sagen:

„Suchen – das ist Ausgehen von alten Beständen und ein Finden-Wollen von bereits Bekanntem im Neuen. Finden – das ist das völlig Neue! Das Neue auch in der Bewegung. Alle Wege sind offen und was gefunden wird, ist unbekannt. Es ist ein Wagnis, ein heiliges Abenteuer! Die Ungewissheit solcher Wagnisse können eigentlich nur jene auf sich nehmen, die sich im Ungeborgenen geborgen wissen, die in die Ungewissheit, in die Führerlosigkeit geführt werden, die sich im Dunkeln einem unsichtbaren Stern überlassen, die sich vom Ziele ziehen lassen und nicht – menschlich beschränkt und eingeengt – das Ziel bestimmen. Dieses Offensein für jede neue Erkenntnis im Außen und Innen: Das ist das Wesenhafte des modernen Menschen, der in aller Angst des Loslassens doch die Gnade des Gehaltenseins im Offenwerden neuer Möglichkeiten erfährt.“

Man findet Zusammenstellungen, die im Umraum aufgehen und einen Bezug zu ihm herstellen. Ein keck unter einem monumentalen Steinquader hervorschauendes, gedrechseltes Holzstück, das mehr verunsichert als gefühlte Stabilität herstellt. Ein Doppel-T-Träger, der in einer Werkhalle funktional umgewidmet wird und nunmehr Objektträger und Regal ist. Eine ephemere, fragile Installation lässt die umstehende hölzerne Wandvertäfelung zu einem integralen Bestandteil werden und umfasst dadurch mehr Raum, als sie konkret ausfüllt. Auch wenn der Betrachter in all diesen Fällen durch die semantische Umwidmung überrascht wird, fügen sich die Gegenstände wie selbstverständlich in ihre neue Umgebung ein. Die Präsentationsfläche wird zum Werk selbst.

Weiter gibt es Assemblagen, die in sich selbst ruhen. Dabei handelt es sich um installative Gebilde, die sich durch ihre konzentrische Ausrichtung selbst einen Wirkrahmen geben. Man fühlt sich an in Schaukästen präsentierte Sammelsurien erinnert, die jedoch als Einzelstücke keinen erkennbaren Zweck erfüllen.

Insgesamt drängen sich bei dieser Werklinie Bezüge zur Kunstform der sogenannten „Ready-mades“ auf. Die Arbeiten Römpps spielen aber anders als die berühmten Werke Duchamps, welche prototypisch für die ganze Kunstgattung stehen, nicht nur mit einem noch klar zu Tage tretenden, ursprünglichen funktionalen Bedeutungsgehalt der Gegenstände. Römpp macht deutlich, dass Readymades auch durch Rekombination von Realgegenständen entstehen können. Durch die Entziehung der Gegenstände aus ihrem ursprünglichen Bedeutungskontext und die andersartige Zusammenstellung wird die Ebene des Faktischen und Funktionalen überwunden; die künstlerische Semantik entfaltet sich auf einer anderen, imaginativen Ebene. Erst die Kombination der Elemente verleiht den Einzelstücken einen ästhetischen Sinn. Bei den Objektteilen handelt es sich um Fundstücke, die von der Künstlerin scheinbar ohne Absicht in einen Fundus überführt werden und sich erst in der Folge durch Imagination zusammensetzen. So wird eine zweite, traditionell eher verborgene Denkrichtung der Logik von Readymades in den Vordergrund gerückt: Neben der Negation der Alltagsrealität und Konsumwelt kommt es zu einer Transfiguration und Neuordnung des Gewöhnlichen.

„Gestalten“ ist ein weiterer Leitbegriff, mit dem man einen Teil der künstlerischen Resultate Römpps fassen kann. Darunter finden sich Arbeiten, denen eine Spannung innewohnt, die jederzeit auszubrechen droht. Römpp konfrontiert uns dabei mit den Erkenntnissen ihrer eigenen, subjektiven Wahrheit, die sie mit uns teilt. Physikalische Phänomene wie Magnetismus und mechanische Biegespannung werden genutzt, um einzelne Objektteile aus ihrer vordergründig natürlichen Anordnung zueinander zu bringen und eine energiegeladene Neuordnung vorzunehmen. Die unterbewusste Kenntnis davon, welcher Zustand in Abwesenheit dieser Kräfte „richtig“ ist, evoziert die intellektuelle Spannung, die Römpps Arbeiten hervorrufen. Dies gilt interessanterweise auch, obwohl gemeinhin bekannt ist, wie solche Kräfte die Ausrichtung von Objekten im Raum verändern und der Gravitation entgegenwirken können. Römpp betont durch diesen gestalterischen Ansatz die Eigengesetzlichkeit von Kunst und nutzt geschickt die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse. Der ab und zu geäußerten Entzauberung der Kunst durch die Naturwissenschaften wird eine künstlerische Position entgegengestellt. Metaphysische Einflüsse, durch die sich künstlerisches Schaffen vermeintlich den Naturgesetzen widersetzt, gewinnen an Bedeutung. Gerade weil der Alltag in der westlichen Kulturhemisphäre regelmäßig durch institutionalisierten Rationalismus sowie das Diktat von Naturgesetzlichkeit geprägt und bestimmt ist, scheint in diesem künstlerischen Ansatz das Bedürfnis nach Wiederverzauberung und „Anti-Realität“ auf.

Insgesamt lässt sich ein Befund festhalten, der – erneut Bezug nehmend auf das Eingangszitat – den hinter den Werklinien stehenden Gedanken gemein ist:
Kunst wird von Künstlern gemacht und nicht von Theoretikern. Sie sucht sich immer neue Wege und ignoriert dabei jegliche naturwissenschaftliche oder durch sonstige Denkmuster vorgegebene Doktrin. Sie manifestiert die dionysische Lesart eines Vexierbildes, das im Alltag eher apollinisch ausfällt. Bemerkenswert ist dabei der glaubwürdig autonome Ansatz von Römpp, der sich konsequent aus der individuellen und eigenverantwortlichen Inspiration schöpft.

Martin Steinberger